Gender Bias in der Medizin (Teil 1): Wie strukturelle Verzerrungen Versorgung und Forschung prägen

Juni 11, 2025 | FemSportsHealth

von Dr. Christine Lohr

Warum geschlechtersensible Forschung unverzichtbar ist und wie Gender Bias bis heute medizinische Standards, Studienlagen und Versorgungspraxis beeinflusst.

Medizin gilt als evidenzbasiert und objektiv. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Viele Standards beruhen auf Daten, die den männlichen Körper zum Maßstab nehmen. Frauen sind in Studien unterrepräsentiert, Symptome werden fehlgedeutet, Versorgungslücken übersehen. Dieser Beitrag zeigt, wie tief Gender Bias im medizinischen System verankert ist.

Warum werden Frauen häufiger falsch diagnostiziert? Warum fehlen bis heute belastbare Daten zu Medikamentenwirkungen, Nebenwirkungen oder Trainingsempfehlungen für Frauen, insbesondere in den Wechseljahren?

Gender Bias in der Medizin ist kein neues Phänomen. Doch erst in den letzten Jahren beginnt sich ein differenzierter Blick durchzusetzen. Lange war die medizinische Versorgung auf männliche Körper ausgerichtet. Andere Realitäten wurden systematisch ausgeblendet. Dieser Beitrag befasst sich mit den historischen, strukturellen und praktischen Ursachen von Gender Bias in Forschung, Lehre und Versorgung. Er legt die Grundlage für eine Medizin, die geschlechtsspezifische Unterschiede nicht länger ignoriert.

Gender Bias – Begriff und Bedeutung

Gender Bias beschreibt strukturelle Verzerrungen, die in medizinischer Forschung und Versorgung aufgrund von Geschlecht entstehen. Es handelt sich nicht um individuelles Fehlverhalten, sondern um institutionelle und methodische Muster. Diese zeigen sich etwa in der Bewertung von Symptomen, der Gestaltung diagnostischer Verfahren oder der Auswertung von Studien.

Ein Beispiel ist die jahrzehntelange Herzinfarktdiagnostik. Typische Symptome wurden an männlichen Probanden definiert. Dass Frauen häufiger über Übelkeit, Kurzatmigkeit oder Schmerzen im oberen Rücken berichten, wurde lange nicht systematisch erfasst. Solche Symptome gelten noch heute als „atypisch“, obwohl sie bei Frauen sehr häufig auftreten – besonders ab der Lebensmitte 16.

Gender Bias beginnt bereits in der präklinischen Forschung. Noch immer werden überwiegend männliche Versuchstiere eingesetzt. Zelllinien sind oft ohne Geschlechtsangabe oder werden nicht geschlechtsspezifisch ausgewertet. Dabei ist bekannt, dass Zellen geschlechtsabhängig auf pharmakologische Reize reagieren können 5,17. Die Einbeziehung biologischer Unterschiede ist keine optionale Zusatzinformation, sondern wissenschaftlich notwendig27.

Auch medizinische Leitlinien sind vielfach auf Basis männlich dominierter Daten entstanden. Frauen wurden in vielen Studien nicht nur unterrepräsentiert, sondern oft vollständig ausgeschlossen. Zyklische Hormonverläufe oder potenzielle Schwangerschaften wurden als methodische Störfaktoren betrachtet. Die Folge sind Versorgungslücken, die sich besonders in sensiblen Lebensphasen wie den Wechseljahren zeigen16.

Internationale Fachgesellschaften und wissenschaftliche Analysen betonen seit Jahren die Relevanz einer geschlechtersensiblen Medizin. Dabei geht es nicht nur um die Berücksichtigung biologischer Unterschiede, sondern auch um soziale Einflüsse auf Symptome, Krankheitsverläufe und Versorgungspfade. Umfangreiche Übersichtsarbeiten zeigen, dass Geschlecht als biologische und soziale Kategorie bislang unzureichend integriert ist 16,17.

Auch auf europäischer Ebene wurden klare Empfehlungen formuliert. Der Gendered Innovations 2 Report der Europäischen Kommission (2020) stellt konkrete Maßnahmen vor, wie geschlechtsspezifische Perspektiven in Forschung und Entwicklung systematisch eingebunden werden können, insbesondere in der Medizin, Pharmakologie und Medizintechnik10.

Die institutionelle Verankerung von Genderperspektiven im deutschen Hochschulsystem begann vergleichsweise spät. Die erste Professur mit Genderbezug wurde 1982 an der Fachhochschule Fulda eingerichtet, eine der ersten universitären Sonderprofessuren folgte 1984 an der FU Berlin im Bereich Literaturwissenschaft 24. Die erste reguläre C4-Professur (entspricht in der heutigen W-Besoldungsordnung der W-3 Professur)  mit geschlechtersoziologischem Schwerpunkt entstand 1987 an der Universität Frankfurt am Main24. Eine Erhebung der Freien Universität Berlin dokumentierte im Jahr 2017 bundesweit 185 Genderprofessuren – davon lediglich 27 mit vollständiger Denomination. Die meisten waren auf Teilaufträge beschränkt oder befristet eingerichtet26. Über die Hälfte dieser Professuren waren in den Sozialwissenschaften angesiedelt. In den medizinischen Fakultäten hingegen waren geschlechterspezifische Lehrstühle die Ausnahme. Diese ungleiche Verankerung trägt dazu bei, dass geschlechtsspezifische Fragestellungen in Curricula, Forschungsprogrammen und Drittmittelprojekten bis heute marginalisiert bleiben.

Noch immer fehlen systematische Anforderungen an die geschlechtsspezifische Datenauswertung. Auch in der medizinischen Ausbildung sind entsprechende Inhalte nur vereinzelt verankert.

Begriffsklärung: Gender, Sex und ihre Bedeutung in der Medizin

In diesem Beitrag wird häufig von Gender Bias und gendersensibler Medizin gesprochen. Der Begriff Gender wird dabei nicht ausschließlich im engen Sinne des sozialen Geschlechts verstanden. In der internationalen Fachliteratur wird er oft als Sammelbegriff für geschlechtsbezogene Aspekte verwendet; das schließt sowohl biologische Unterschiede (sex) als auch soziale Einflüsse (gender) ein23.

Das biologische Geschlecht umfasst chromosomale, hormonelle und physiologische Merkmale. Diese können die Ausprägung von Symptomen, Krankheitsverläufe, Arzneimittelwirkungen und Trainingsanpassungen beeinflussen.

Das soziale Geschlecht bezieht sich auf gesellschaftlich geprägte Rollenbilder, Erwartungen und Handlungsmuster. Diese wirken sich auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung aus, beeinflussen Symptomwahrnehmung und können das medizinische Verhalten gegenüber Patient:innen mitprägen.

Gendersensible Medizin berücksichtigt beide Ebenen: Sie verbindet biologische Evidenz mit gesellschaftlicher Kontextsensibilität. Erst diese Kombination ermöglicht eine differenzierte, gerechte Versorgung17.

Historische Grundlagen und kulturelle Prägung

Die Geschichte der westlichen Medizin ist eng mit hierarchischen Geschlechtervorstellungen verknüpft. Über viele Jahrhunderte hinweg galt der männliche Körper als Norm; Abweichungen wurden nicht als eigenständige Varianten, sondern als Defizite oder Sonderfälle betrachtet. Ein zentrales Beispiel ist das sogenannte Ein-Geschlechter-Modell, das in der Antike und bis weit in die Neuzeit hinein verbreitet war. Nach dieser Vorstellung galt der weibliche Körper als unvollkommene, nach innen gewendete Version des männlichen Körpers. Der Anatom und Medizinhistoriker Thomas Laqueur hat diese Sichtweise eindrücklich analysiert und ihre anhaltende Wirkung auf das medizinische Denken beschrieben14.

Auch mit der Entstehung der modernen wissenschaftlichen Medizin im 19. Jahrhundert blieb diese Asymmetrie bestehen. Der männliche Körper wurde zur Referenz in der Anatomie, der Pathologie und der Entwicklung diagnostischer Standards. Weibliche Körper galten als störanfällig, hormonell komplex oder schwerer messbar. Dieses Denkmuster hat sich tief in die medizinische Ausbildung und Forschung eingeschrieben.

Ein paradigmatisches Beispiel ist die kardiovaskuläre Medizin. Herzinfarktsymptome wurden jahrzehntelang entlang männlicher Erfahrungswerte beschrieben. Dass Frauen häufig andere Leitsymptome zeigen, wurde lange nicht erforscht und führte in der Praxis zu Fehl- und Spätdiagnosen25. Erst in den 1980er Jahren begannen Medizinerinnen wie Dr. Nanette Wenger, auf diese Verzerrungen hinzuweisen. Ihre Arbeit war entscheidend für den NIH Revitalization Act von 1993, der erstmals die verpflichtende Einbeziehung von Frauen in US-amerikanische, staatlich finanzierte klinische Studien vorschrieb20.

Auch in Europa griffen Reformen vergleichsweise spät. Der EU-Gender Equality Plan wurde erst in den 2020er Jahren verpflichtend in Forschungsförderung und Projektplanung integriert9. Der Rückstand hat Folgen; in vielen medizinischen Fachgebieten fehlen bis heute standardisierte Erhebungen und geschlechtsspezifische Risikomodelle.

Historische Prägungen wirken fort, auch wenn sie nicht mehr explizit gelehrt werden. Lehrbücher, Forschungsschwerpunkte und Curricula beruhen häufig auf androzentrischen Grundlagen. Ihre Korrektur erfordert nicht nur neue Daten, sondern auch ein kritisches Bewusstsein für die epistemischen Bedingungen, unter denen medizinisches Wissen entsteht.

Strukturelle Ursachen für Bias in Forschung und Praxis

Gender Bias in der Medizin ist kein Überbleibsel vergangener Denktraditionen, sondern ein strukturelles Phänomen, das sich bis heute in zahlreichen Ebenen des Wissenschafts- und Gesundheitssystems fortsetzt. Die Verzerrung beginnt bei der Studienplanung und zieht sich über die Finanzierung bis hin zur klinischen Anwendung. Besonders gravierend sind die Lücken dort, wo komplexe hormonelle Konstellationen oder Lebensphasen wie die Wechseljahre systematisch unzureichend berücksichtigt werden.

Unterrepräsentation in der Forschung

Frauen sind in klinischen Studien noch immer deutlich unterrepräsentiert. Besonders in frühen Phasen – etwa bei der Prüfung neuer Wirkstoffe – werden sie oft ausgeschlossen. Begründet wird dies häufig mit hormonellen Schwankungen, potenziellen Schwangerschaften oder der vermeintlichen Schwierigkeit, Zyklusphasen standardisiert zu erfassen. Auch Frauen in der Lebensmitte fehlen häufig vollständig; weder perimenopausale noch postmenopausale Besonderheiten werden adäquat einbezogen16.

Diese Unterrepräsentation führt zu erheblichen Datenlücken. Erkenntnisse über Medikamentenwirkungen, Nebenwirkungsprofile oder Trainingsanpassungen beruhen überwiegend auf Daten jüngerer Männer. Die Folge: Frauen erhalten Therapien, die auf falschen Annahmen beruhen oder für sie nicht ausreichend geprüft wurden.

Forschungsfinanzierung und thematische Prioritäten

Forschung ist kein neutraler Prozess. Welche Fragen gestellt und welche Projekte gefördert werden, hängt stark von den Entscheidungsträgern und strukturellen Bedingungen ab. Studien mit gendersensibler Ausrichtung gelten oft als „komplex“, „nicht wirtschaftlich“ oder „nischig“8. Fördermittel fließen häufiger in Projekte, die sich an einer männlichen Referenzgruppe orientieren.

Auch die Zusammensetzung von Gutachtergremien spielt eine Rolle. Diese sind nach wie vor männlich dominiert7,19; Perspektiven auf frauenspezifische Themen oder Lebensphasen wie Schwangerschaft, Menstruation oder Menopause finden seltener Eingang in die Förderpraxis. Besonders auffällig ist die geringe Zahl von Projekten, die sportlich aktive Frauen ab 40 explizit adressieren.

Biologische Variabilität als Ausschlusskriterium

Ein häufig genanntes Argument gegen die Einbeziehung weiblicher Probandinnen ist ihre „biologische Variabilität“. Menstruationszyklus, hormonelle Umstellungen und altersbedingte Veränderungen gelten als methodische Störgröße. Dieses Argument ist aus wissenschaftlicher Sicht problematisch. Variabilität ist kein Fehler, sondern Realität; sie muss abgebildet werden, wenn Forschung realitätsnahe und übertragbare Ergebnisse liefern will16,17.

Gerade bei Wirkstoffen, Impfstoffen oder diagnostischen Verfahren ist es unerlässlich, geschlechtsspezifische Reaktionen zu analysieren. Eine standardisierte Medizin, die auf Homogenität zielt, verfehlt die Lebensrealität der meisten Menschen.

Das Default-Male-Paradigma

Tief verwurzelt in der medizinischen Forschung ist das sogenannte Default-Male-Paradigma. Es beschreibt die implizite Annahme, dass der männliche Körper die Norm darstellt. Diese Grundannahme zeigt sich in Lehrbüchern, Anatomieatlanten, pharmakologischen Modellen und Leitlinien. Weibliche Körper gelten dagegen als „besonders“ oder „abweichend“ und nicht als gleichwertige Referenz4.

Auch in der medizinischen Ausbildung ist dieses Paradigma wirksam. Fallbeispiele, Modellpatienten und Prüfungsfragen sind oft an männlicher Physiologie orientiert. Inhalte zu zyklischen Veränderungen, Perimenopause oder geschlechtsspezifischer Pharmakokinetik finden nur punktuell Eingang in Lehrpläne.

Die strukturellen Verzerrungen haben direkte Auswirkungen auf Versorgungsrealitäten. Wer nicht vorkommt, wird schlechter verstanden, seltener richtig diagnostiziert und weniger wirksam behandelt.

Fallbeispiele aus der medizinischen Versorgung

Die strukturellen Verzerrungen in der medizinischen Forschung und Lehre sind keine abstrakten Probleme. Sie wirken sich konkret auf die Versorgung aus. Besonders deutlich wird dies in Bereichen, in denen geschlechtsspezifische Unterschiede medizinisch bedeutsam sind, aber nicht systematisch berücksichtigt werden. Die folgenden Beispiele zeigen, wie Gender Bias Diagnostik, Therapie und Prävention beeinflusst – mit potenziell schwerwiegenden Folgen.

Kardiologie – Herzinfarkt als Männerkrankheit

Lange Zeit galt der Herzinfarkt als typische Männererkrankung. Die Symptomdefinition basierte auf Brustschmerz, Ausstrahlung in den linken Arm und Engegefühl; ein klinisches Bild, das überwiegend aus Studien mit männlichen Probanden abgeleitet wurde. Frauen hingegen zeigen häufig unspezifischere Symptome wie Übelkeit, Oberbauchdruck, Atemnot oder Schmerzen im Rücken. Diese Hinweise wurden in der Notfallmedizin häufig fehlinterpretiert oder bagatellisiert11,25.

Mehrere Studien und Meta-Analysen belegen: Frauen erleben signifikant längere Zeit bis zur Behandlung (prä‑ und infrastrukturbedingt) und werden seltener invasiv behandelt. Eine umfassende Meta-Analyse15 (37 Beobachtungs- und 21 Interventionsstudien) zeigt, dass Frauen nach einem akuten Koronarsyndrom weiterhin seltener pPCI oder ähnliche Maßnahmen erhalten, selbst ohne signifikant höheren Einfluss von Alter oder Begleiterkrankungen. Unadjustiert haben sie zudem höhere Krankenhaussterblichkeit (OR 1,56 [1,53–1,59]) und 30‑Tage-Mortalität (OR 1,71) als Männer; auch nach Adjustierung bestehen Überlebensnachteile, die auf verzögerte Behandlung und weniger invasive Reperfusion (Wiederherstellung der Durchblutung) zurückzuführen sind.

Auch in Europa zeigt sich dieses Muster. Trotz Aufklärungsprogrammen werden Frauen mit Herzinfarkt oft später versorgt; interventionelle Eingriffe erfolgen verzögert. Die Sterblichkeitsraten nach dem ersten Infarkt sind bei Frauen in vielen Ländern nach wie vor höher als bei Männern3.

Neurologie – Alzheimer, hormonelle Umstellung und Brain Fog

Frauen sind deutlich häufiger von Alzheimer betroffen als Männer. Etwa zwei Drittel aller diagnostizierten Fälle entfallen auf Frauen13. Lange wurde dies ausschließlich mit der höheren Lebenserwartung erklärt. Heute ist bekannt: Der Rückgang von Östrogen in den Wechseljahren verändert zentrale Prozesse im Gehirn. Dazu gehören Glukosemetabolismus, Synapsenaktivität und neuronale Plastizität1.

Trotz dieser Erkenntnisse gibt es bis heute kaum geschlechtsspezifische Risikomodelle in der Neurologie. Symptome wie „Brain Fog“, Gedächtnisstörungen oder Wortfindungsprobleme in der Perimenopause werden häufig als Stressfolge oder Burnout interpretiert, ohne differenzierte neurologische Abklärung.

Ein typisches Szenario: Eine 51-jährige Frau berichtet über zunehmende Erschöpfung, Konzentrationsstörungen und diffuse kognitive Beeinträchtigungen. Ihr wird zu Entspannung geraten; eine weiterführende Diagnostik bleibt aus. Erst Jahre später wird ein kognitiver Abbau festgestellt. Frühzeitige Präventionsansätze wurden nicht genutzt.

Schmerzmedizin – Wahrnehmung, Bewertung und Medikation

Frauen berichten häufiger über chronische Schmerzen. Dazu zählen Erkrankungen wie Migräne, Endometriose, rheumatoide Arthritis oder Fibromyalgie. Dennoch werden ihre Beschwerden oft weniger ernst genommen oder anders eingeordnet als bei Männern. Studien zeigen, dass Männer bei gleichen Symptombeschreibungen häufiger opioidhaltige Schmerzmittel erhalten; Frauen hingegen häufiger Beruhigungs- oder Antidepressiva22.

Diese unterschiedliche Bewertung ist nicht auf Einzelfälle beschränkt. In vielen hausärztlichen Praxen berichten Frauen von langwierigen Diagnostikverzögerungen, wenn sie über Schmerzen im unteren Rücken, im Beckenbereich oder über zyklusabhängige Beschwerden klagen. Die Diagnose wird oft in den psychosomatischen Bereich verschoben, mit dem Risiko, dass entzündliche oder strukturelle Ursachen zu spät erkannt werden.

Trainings- und Sportwissenschaft – Normierung männlicher Modelle

In der sportwissenschaftlichen Forschung dominiert bis heute das männliche Modell. Trainingspläne, Belastungstests, Studien zur Regeneration und Leistungsdiagnostik beruhen meist auf Daten junger, gesunder Männer. Frauen – insbesondere ab der Lebensmitte – sind in Studien stark unterrepräsentiert6,7.

Die Folge: Trainingsprogramme und Empfehlungen basieren auf Parametern, die weibliche Zyklusphasen, hormonelle Veränderungen oder spezifische Anpassungsprozesse nicht berücksichtigen. In der Praxis führt das zu Fehlanpassungen, stagnierendem Trainingserfolg oder Überlastung.

Beispiel: Eine 45-jährige Frau erhält im Fitnessstudio einen standardisierten Plan mit hohem Ausdaueranteil und geringem Fokus auf Krafttraining. Zyklische Leistungsunterschiede oder das erhöhte Regenerationsbedürfnis in der Perimenopause werden nicht berücksichtigt. Statt Fortschritt stellt sich Frustration ein.

Medizintechnik – Geräte, Prothesen und anthropometrische Normen

Gender Bias zeigt sich auch in der Entwicklung und Anwendung medizinischer Technik. Viele chirurgische Instrumente, Implantate oder Prothesen basieren auf männlichen Standardmaßen. Dies betrifft Dimensionen, Handhabung und biomechanische Passform.

In der Orthopädie etwa zeigen Studien, dass Frauen vor einer Hüft-Totalendoprothese häufiger stärkere Schmerzen und Einschränkungen berichten21. Dennoch ist der Versorgungsstandard auf männliche Anatomie abgestimmt. Auch in der Ergonomie von Operationsinstrumenten gibt es Defizite: Laparoskopische Geräte sind häufig auf größere Handspannweiten und Griffkräfte ausgelegt, was weibliche Chirurginnen benachteiligt2.

Ein weiterer Aspekt betrifft die technische Ausstattung gynäkologischer Fachbereiche12. Während in der Urologie hochentwickelte robotische Systeme Standard sind, erfolgt die Ausstattung in der Gynäkologie oft auf niedrigerem technischem Niveau18. Hier spiegelt sich ein struktureller Investitionsrückstand wider, der nicht mit klinischer Relevanz korrespondiert.

Fazit und Ausblick

Gender Bias in der Medizin ist kein Randphänomen und auch kein vergangenes Kapitel. Vielmehr handelt es sich um ein tief verankertes, strukturelles Problem, das Forschung, Lehre und klinische Praxis bis heute prägt. Frauen werden in Studien zu selten berücksichtigt, ihre Symptome zu häufig falsch eingeordnet, ihre Bedarfe zu wenig erforscht. Besonders sichtbar wird dies in Lebensphasen wie den Wechseljahren, in denen hormonelle Umstellungen zahlreiche Körpersysteme beeinflussen – aber wissenschaftlich nur fragmentarisch erfasst sind.

Der Rückgriff auf männliche Normen ist dabei nicht immer bewusst; oft ist er methodisch tradiert und institutionell verfestigt. Ob in der Kardiologie, der Schmerztherapie, der Neurologie, der Trainingswissenschaft oder in der Medizintechnik – überall dort, wo Unterschiede zählen, bleibt Gleichbehandlung ohne Differenzierung eine Form der strukturellen Ungleichheit.

Ein gerechteres Medizinsystem benötigt mehr als individuelle Sensibilisierung. Es erfordert systemische Veränderungen: in der Studienplanung, in der Datenauswertung, in den Förderentscheidungen und in der medizinischen Ausbildung. Dafür muss Wissen nicht nur ergänzt, sondern die Frage nach der Norm grundsätzlich neu gestellt werden.

Im zweiten Teil dieser Reihe geht es um Perspektiven und Lösungsansätze. Vorgestellt werden internationale Programme, nationale Strategien und konkrete Handlungsempfehlungen für Forschung, Lehre und Versorgung. Außerdem wird ein Blick auf aktuelle Rückschritte geworfen – etwa auf politische Entwicklungen in den USA, die geschlechtersensible Forschung zunehmend unter Druck setzen.

Medizin, die alle Menschen gerecht versorgen will, muss sich ihrer historischen und strukturellen Voraussetzungen bewusst werden. Erst auf dieser Grundlage kann sich Vielfalt im klinischen Alltag tatsächlich abbilden.

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