Osteopathie und Geschlechterbias. Ein Blick auf Modelle, Gewebe und Wahrnehmung
von Dr. Christine Lohr
Warum traditionelle Modelle weibliche Körper nur unvollständig erfassen und wie moderne Forschung die osteopathische Praxis erweitert.
Ein System, das nicht für alle Körper gemacht wurde
Wenn wir heute über weibliche Gesundheit sprechen, beginnen wir fast immer mit Symptomen, Diagnosen oder bestimmten Lebensphasen. Wir sprechen über Hormone, Belastbarkeit, Stoffwechsel oder Training. Doch all diese Bereiche basieren auf Vorstellungen darüber, wie ein Körper funktioniert. Genau hier zeigt sich ein grundlegendes Problem, denn diese Vorstellungen sind selten neutral.
Historische Wissensordnungen wirken weiter
Je länger ich mich mit den historischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen beschäftige, desto deutlicher wird, wie eng unser Wissen über Frauenkörper bis heute an Normen gebunden ist, die weit vor der modernen Medizin entstanden. Viele der Modelle, die wir in Forschung, Diagnostik und im manualtherapeutischen Setting verwenden, greifen auf Konzepte zurück, die Frauenkörper entweder nicht ausreichend abbilden oder sie in vorgegebene Raster einordnen. Dieses Muster entsteht über lange Zeiträume und wirkt bis heute fort, oft ohne, dass wir es bewusst wahrnehmen.
Unsichtbare Normen und ihre Folgen
Der weibliche Körper wird bewertet, verglichen und reguliert, häufig ohne Transparenz. Wir arbeiten in einem Gesundheitssystem, dessen Modelle weibliche physiologische Vielfalt nur unvollständig erfassen. An diesem Punkt stellt sich die Frage, wie Therapien funktionieren, die mit Gewebe, Wahrnehmung und manueller Interpretation arbeiten. Und sie betrifft auch die Osteopathie.
Anatomie als verzerrte Grundlage
Viele anatomische Grundlagen, auf die manualtherapeutische Modelle zurückgreifen, sind in einem Umfeld entstanden, das den männlichen Körper als Standard etabliert hat. Analysen anatomischer Lehrwerke zeigen eine deutliche Überrepräsentation männlicher Körper. Weibliche anatomische Darstellungen sind seltener, weniger detailliert und oft auf reproduktive Funktionen beschränkt. Diese Verzerrung ist gut dokumentiert1,8. Wenn Modelle auf solchen Grundlagen basieren, spiegeln sie nur einen Teil der biologischen Realität wider.
Faszie als hormonabhängiges und dynamisches Gewebe
Moderne Faszienforschung zeichnet hingegen ein anderes Bild. Faszienfibroblasten tragen Östrogenrezeptoren und reagieren auf Östradiol, indem sie die Kollagenproduktion und Matrixorganisation verändern. Diese hormonabhängigen Prozesse wurden experimentell nachgewiesen und zeigen, wie eng zyklische und lebensphasenspezifische Veränderungen im Gewebe verankert sind2,3. Gleichzeitig wissen wir, dass interstitielle Flüssigkeitsbewegungen die Differenzierung von Myofibroblasten* und die Ausrichtung von Kollagenfasern beeinflussen. Gewebe reagiert damit unmittelbar auf mechanische und biochemische Reize7. Neuere Übersichtsarbeiten beschreiben die Faszie zudem als regulatorisches Netzwerk, das sensorische, mechanische und immunologische Signale integriert und seine Struktur fortlaufend anpasst10.
Sehnen reagieren unterschiedlich auf Belastung
Auch die Sehnenforschung zeigt klare geschlechts- und hormonabhängige Unterschiede. Mehrere Übersichtsarbeiten berichten von abweichenden Steifigkeitsprofilen, geringerer Kollagensynthese und anderen Anpassungsverläufen bei Frauen. Diese Befunde verändern die Grundlagen, auf denen wir therapeutisch arbeiten, da sie Belastbarkeit, Stabilität und Regeneration anders erklären, als es traditionelle Modelle nahelegen4,5.
Wahrnehmung und Schmerz sind nicht neutral
Neben diesen strukturellen Faktoren spielt die sensorische Verarbeitung eine zentrale Rolle. Übersichtsarbeiten zeigen Unterschiede in Schmerzempfinden, Berührungsverarbeitung und affektiver Bewertung von Touch**. Diese Mechanismen sind neurobiologisch fundiert und werden durch hormonelle und strukturelle Faktoren beeinflusst6,9. Palpation ist damit kein objektives Erfassen. Sie ist ein interpretativer Vorgang, geprägt durch Wahrnehmung, Erfahrung und Erwartung.
Was als normal gilt, ist eine Frage des Modells
Wenn anatomische Modelle überwiegend männliche Körper repräsentieren, wenn Gewebe hormonabhängig arbeitet und wenn sensorische Verarbeitung sich unterscheidet, stellt sich eine einfache Frage. Welche Körperbilder liegen dem zugrunde, was wir als normal, auffällig oder behandlungsbedürftig einordnen
Die Osteopathie besitzt großes Potenzial, weil sie funktionelle Zusammenhänge in den Mittelpunkt stellt. Dieses Potenzial entfaltet sich jedoch erst dann vollständig, wenn die Grundlagen, auf denen Diagnostik und Interpretation beruhen, die Vielfalt biologischer Realität integrieren. Ein weiblicher Körper ist kein Sonderfall. Er ist Teil eines Kontinuums, das in vielen Modellen bislang nur unzureichend abgebildet ist.
Wie es weitergeht
In den kommenden Wochen werde ich weitere Aspekte dieser Thematik aufgreifen. Dazu gehören die historische Entwicklung anatomischer Normalmodelle, aktuelle Erkenntnisse zu hormonabhängiger Gewebedynamik sowie Fragen zur Bedeutung sensorischer Verarbeitung in der manualtherapeutischen Arbeit. Ziel ist es, sichtbarer zu machen, wie eng wissenschaftliche Konzepte, gesellschaftliche Vorstellungen und therapeutische Praxis miteinander verbunden sind. Und warum ein genauerer Blick auf diese Zusammenhänge notwendig ist, um Versorgung und Behandlung für alle Menschen zu verbessern.
* Myofibroblasten sind Bindegewebszellen, die aktiv Zugkräfte erzeugen und Kollagen umbauen.
** Der Begriff ‚affektiver Kontakt‘ bezieht sich auf Berührungen, die emotionale Reaktionen hervorrufen.
Quellen:
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