Protein realistisch betrachtet. Eine fundierte Einordnung für aktive Frauen
von Dr. Christine Lohr
Wie Ernährung, Training und hormonelle Veränderungen zusammenspielen
Veränderungen in der Muskulatur während der Lebensmitte
Protein ist zu einem Trendthema geworden. In Supermärkten und sozialen Medien entsteht häufig der Eindruck, jede Mahlzeit müsse möglichst proteinreich sein4. Gleichzeitig halten sich Vorstellungen, die zu einer sehr niedrigen Proteinzufuhr führen. Keine dieser Sichtweisen entspricht den physiologischen Grundlagen. Der tatsächliche Bedarf entsteht aus der Kombination von Lebensphase, Trainingsanpassungen und Alltagsaktivität. Frauen in der Lebensmitte profitieren von einer regelmäßigen, gut verteilten Proteinaufnahme, vor allem wenn sie körperlich aktiv sind3,5. Es geht nicht darum, jede Mahlzeit maximal zu optimieren. Vielmehr steht eine sinnvolle Unterstützung des Stoffwechsels im Vordergrund, ohne Druck oder überzogene Erwartungen.
Die anabole Schwelle. Warum Protein mit zunehmendem Alter anders wirkt
Mit zunehmendem Alter steigt die Menge an Protein, die erforderlich ist, um die Muskelproteinsynthese anzuregen. Jüngere Erwachsene erreichen diese anabole Schwelle bereits mit Mengen von 15 bis 20 Gramm Protein pro Mahlzeit.
Die Literatur zeigt, dass Frauen nach der Menopause häufig 25 bis 30 Gramm Protein pro Mahlzeit benötigen, um die Muskelproteinsynthese zuverlässig zu aktivieren10.
Für die Tageszufuhr ergeben sich daraus Proteinzielbereiche von mindestens 1,2 bis 1,6 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht, die in Studien bei aktiven älteren Erwachsenen zu besseren Muskel- und Stoffwechselanpassungen geführt haben11. Krafttraining senkt die anabole Schwelle, weil es die Sensitivität der Muskulatur erhöht. Protein und Training wirken daher immer im Zusammenspiel12.
Wie viel Protein pro Tag ist denn nun sinnvoll?
Für aktive Frauen in der Lebensmitte ergeben sich aus der Literatur klare Orientierungen. Eine tägliche Proteinzufuhr von 1,2 bis 1,6 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht unterstützt Muskelstruktur, Regeneration und Stoffwechsel11. Bei regelmäßigem intensivem Krafttraining sind Mengen bis 2,0 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht gut begründet12,14. Diese Bereiche gelten als sicher und physiologisch gut nutzbar. Eine starre Obergrenze ist bei gesunden Frauen nicht notwendig. Höhere Mengen zeigen selten zusätzlichen Nutzen, solange die Energiezufuhr ausreichend ist und die Proteinzufuhr gleichmäßig über die Mahlzeiten verteilt wird.
Zur biologischen Wertigkeit und Qualität von Proteinen
Proteine bestehen aus Aminosäuren. Für die Regeneration und den Aufbau von Muskelgewebe sind besonders die essenziellen Aminosäuren* bedeutsam. Leucin spielt eine zentrale Rolle bei der Aktivierung der Muskelproteinsynthese. Tierische Proteinquellen wie Milchprodukte, Eier oder Fisch enthalten ein vollständiges Aminosäureprofil und hohe Leucinmengen, wodurch sie im Stoffwechsel besonders effizient verwertet werden können13. Pflanzliche Proteinquellen weisen häufig ein weniger vollständiges Aminosäureprofil auf, können jedoch durch gezielte Kombinationen eine hohe biologische Qualität erreichen. Beispiele hierfür sind Zusammenstellungen aus Hülsenfrüchten und Getreide oder Sojaprodukte in Kombination mit Nüssen und Samen (siehe Tabelle 1). Studien zeigen zudem, dass eine vielfältige pflanzliche Ernährung mit ausreichender Gesamtproteinmenge eine vergleichbare Muskelproteinsynthese unterstützen kann9.
Tabelle 1 Pflanzliche Proteinquellen optimal kombiniert
| Kombination | Warum sinnvoll? | Beispiele im Alltag |
| Hülsenfrüchte + Getreide | ergänzt limitierende Aminosäuren (z. B. Lysin vs. Methionin) | Linsen mit Reis, Kichererbsen + Couscous, Bohnen + Haferflocken |
| Sojaprodukte + Nüsse/Samen | Soja ist bereits hochwertig, Nüsse erhöhen Gesamtprotein + Leucinanteil | Tofu + Cashews, Tempeh + Sesam, Sojajoghurt + Mandeln |
| Hülsenfrüchte + Kartoffeln | Kartoffelprotein hat hohe biologische Wertigkeit; Kombination verbessert AA-Profil | Linseneintopf mit Kartoffeln, Bohnenpfanne mit Ofenkartoffeln |
| Quinoa + Bohnen/Linsen | Quinoa ist ein vollständiges Protein, Hülsenfrüchte erhöhen Gesamtmenge | Quinoa-Bowl mit schwarzen Bohnen, Quinoa-Salat + Edamame |
| Haferflocken + Sojamilch | Soja ergänzt Hafer im Leucinprofil; ergibt vollständiges Protein | Porridge mit Sojamilch, Overnight Oats mit Tofu-Crumbles |
| Buchweizen + Hülsenfrüchte | Buchweizen hat günstiges Aminosäureprofil; kombiniert stabil für MPS | Buchweizenpfanne + Linsen, Buchweizen-Nudeln + Kichererbsen |
| Mais + Bohnen | klassische Kombination, ergänzt limitierende AS | Chili sin carne, Mais-Tacos mit Bohnenfüllung |
| Seitan + Hülsenfrüchte | Seitan ist reich an Glutamin, Hülsenfrüchte liefern Lysin | Seitan + Linsenbolognese, Seitanpfanne + Kichererbsen |
*Essenzielle Aminosäuren = lebensnotwendige Bausteine von Proteinen, die ausschließlich über die Nahrung verfügbar sind.
Energie und Protein wirken gemeinsam
Der Körper kann Proteine nur dann sinnvoll nutzen, wenn gleichzeitig genügend Energie zur Verfügung steht. Fehlt diese Grundlage, werden Aminosäuren bevorzugt zur Energiegewinnung eingesetzt und nicht für Regeneration oder Aufbau genutzt. Dieser Zustand wird in der Forschung als geringe Energieverfügbarkeit beschrieben und beeinflusst Muskelaufbau, hormonelle Regulation, Schlafqualität und Belastbarkeit6.
Was bedeutet das für den weiblichen Organismus?
Für aktive Frauen in der Peri- und Postmenopause ist die Kombination aus Proteinzufuhr und ausreichender Gesamtenergie besonders wichtig. Krafttraining setzt gezielt Reize, die Struktur, Stoffwechsel und Anpassungen anstoßen. Diese Prozesse benötigen Energie. Wenn sie fehlt, erhöht sich die Belastung für den Körper, und Regeneration verläuft weniger effektiv. Statt Fortschritten entstehen Müdigkeit, stagnierende Kraftwerte oder verstärkte Beschwerden14.
Wichtig ist daher nicht eine feste Kalorienvorgabe, sondern ein Alltag, in dem regelmäßig Energie zugeführt wird, Protein strukturiert verteilt ist und körperliche Aktivität durch ausreichende Versorgung unterstützt wird. Diese Kombination schafft die Grundlage dafür, dass Training wirkt und der Stoffwechsel stabil bleibt.
Abgrenzung zum Proteinhype
Eine erhöhte Proteinzufuhr im Zeitraum verstärkter Stoffwechselveränderungen basiert auf physiologischen Veränderungen und nicht auf Marketingtrends. Viele Produkte, die als High-Protein-Snacks vermarktet werden, enthalten Zusätze, Zuckeralkohole oder minderwertige Proteinquellen. Wichtiger als der Proteingehalt ist die biologische Wertigkeit und damit die tatsächliche Aminosäurequalität8. Social-Media-Analysen zeigen zudem, dass viele ernährungsbezogene Aussagen unvollständig oder ungenau sind4.
Krafttraining und Protein. Warum die Kombination für Frauen rund um die Menopause zentral ist
Intensives Krafttraining stimuliert Muskelproteinsynthese, Knochengesundheit und metabolische Stabilität. Diese Reize führen nur dann zu Anpassungen, wenn ausreichend Aminosäuren verfügbar sind. Ohne Proteinzufuhr kann der Körper Trainingsreize schlechter umsetzen, was zu höherer Belastung und geringerer Regeneration führt. Frauen ab der Lebensmitte reagieren besonders gut auf intensive Reize mit angemessenen Regenerationszeiten und ausreichender Versorgung5. Untersuchungen zeigen, dass Energieverfügbarkeit, Proteinzufuhr und Trainingsintensität gemeinsam wirken1,7 .
Protein wirkt über die Muskulatur hinaus
Protein unterstützt den Knochenstoffwechsel, das Immunsystem, die Blutzuckerstabilität und kognitive Funktionen. Aminosäuren dienen als Bausteine für Enzyme, Neurotransmitter und strukturelle Proteine des Gewebes. Die Literatur beschreibt deutliche Zusammenhänge zwischen dem Proteinstatus, der Mitochondrienfunktion** und der Stoffwechselfunktion2. Auch die Rolle von Protein im Kontext der Sarkopenieprävention*** ist gut belegt3.
** Mitochondrienfunktion beschreibt die Fähigkeit der Zellen, Energie effizient aus Nährstoffen bereitzustellen.
*** Sarkopenie bezeichnet den altersassoziierten Verlust von Muskelmasse, Muskelkraft und Muskelqualität.
Sie entsteht durch Veränderungen in der Hormonregulation, im Zellstoffwechsel und in der neuromuskulären Steuerung und beeinflusst Mobilität, Stoffwechsel und Belastbarkeit.
Fazit
Eine erhöhte Proteinzufuhr in der Lebensmitte basiert auf physiologischen Prozessen, die sich mit dem Übergang in die Menopause verändern. Frauen profitieren, wenn sie Protein gleichmäßig über den Tag aufnehmen, die Gesamtenergiezufuhr sichern und Krafttraining mit klaren Reizen integrieren. Protein wirkt in diesem Kontext nicht als Trend, sondern als strukturgebender Bestandteil für eine gesunde Anpassung des Körpers. Die Kombination aus intensiven Reizen und ausreichender Versorgung unterstützt Muskelstruktur, Stabilität und Wohlbefinden.
Quellen:
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