Wissen im Wandel: Wie sich Vorstellungen über Frauenkörper im Sport vernetzen

Nov. 9, 2025 | FemSportsHealth

von Dr. Christine Lohr

Eine neue Studie zeigt, wie Wissen über Geschlecht, Training und Leistung im Kraftsport entsteht und warum Forschung, Coaching und soziale Medien dabei eng miteinander verflochten sind.

Immer mehr Frauen trainieren gezielt, leistungsorientiert und reflektiert. Gleichzeitig wächst das Interesse an geschlechtersensibler Forschung und daran, wie Wissen über weibliche Physiologie in den Sport gelangt. Doch vieles, was heute als gesichertes Wissen gilt, ist das Ergebnis sozialer Aushandlung. Zwischen Forschung, Trainingspraxis und digitalen Plattformen entsteht ein komplexes Netzwerk aus Daten, Deutungen und Erfahrungen. Eine aktuelle Studie macht sichtbar, wie dieses Wissen über Frauenkörper geformt und weitergegeben wird und welche Rolle der Umgang mit Hormonen, Zyklus und Training dabei spielt.

Wissen entsteht im Netzwerk

Was wissen wir eigentlich darüber, wie Frauen trainieren sollten, und wer entscheidet, welches Wissen über weibliche Leistungsfähigkeit als gültig gilt?

Eine aktuelle Publikation von Monica Nelson, Holly Thorpe, Belinda Wheaton, Gloria Hinemoa Clarke und Stacy Sims (Qualitative Research in Sport, Exercise and Health, 2025) untersucht genau diese Fragen am Beispiel des olympischen Gewichthebens3. Die Autorinnen zeigen, wie Vorstellungen über Stärke und Weiblichkeit zwischen Trainingshallen, Forschungseinrichtungen und sozialen Medien zirkulieren und einander beeinflussen. Mit der sogenannten Actor-Network-Theory analysieren sie, wie Wissen entsteht, sich verbreitet und von unterschiedlichen Akteurinnen und Institutionen geprägt wird.

Zyklusbasiertes Training – zwischen Empirie und Erwartung

Ein besonders anschauliches Beispiel ist das zyklusbasierte Training. Dieser Ansatz hat in den vergangenen Jahren große Aufmerksamkeit erhalten. Er beruht auf der Idee, Trainingsintensität und Belastungssteuerung an hormonelle Schwankungen im Monatszyklus anzupassen.

In sozialen Medien werden entsprechende Programme vielfach beworben, oft mit dem Versprechen, den „natürlichen Rhythmus“ des weiblichen Körpers zu nutzen. Solche Konzepte scheinen auf den ersten Blick sinnvoll, weil sie weibliche Physiologie sichtbar machen. Zugleich entsteht jedoch eine neue Form der Normierung, wenn Frauen sich permanent an hormonellen Mustern orientieren sollen, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sind.

Tatsächlich zeigen aktuelle Metaanalysen, dass die Leistungsfähigkeit über den Zyklus hinweg weniger stark schwankt, als lange vermutet wurde. Eine systematische Übersichtsarbeit von Colenso-Semple und Kolleginnen1 fand keine konsistenten Unterschiede in der Kraftleistung oder in Trainingsanpassungen zwischen den Zyklusphasen. Auch Stacy Sims betont in ihren wissenschaftlichen Arbeiten zur Trainingsphysiologie, dass die Variabilität zwischen Frauen entscheidend ist5. Ob Ovulation stattfindet, wie Ernährung, Schlaf und Stress wirken und wie sensibel der Körper auf hormonelle Veränderungen reagiert, unterscheidet sich erheblich. Ein Training, das den Zyklus pauschal als Steuerungsgröße nutzt, greift daher zu kurz. Sinnvoller ist ein individueller Ansatz, der die Reaktion des Körpers im jeweiligen Kontext betrachtet.

Wenn Wissen gefiltert wird

Nelson und Kolleginnen zeigen zudem, dass Wissen über den weiblichen Körper auf verschiedenen Ebenen entsteht. Athletinnen sammeln Erfahrungen und tauschen sie untereinander aus. Coaches interpretieren diese Beobachtungen auf Grundlage ihrer Ausbildung, die häufig an männlichen Modellen orientiert ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse wiederum gelangen nur teilweise in die Praxis, da Zugänge zu Fachliteratur fehlen oder verkürzt wiedergegeben werden2. So entstehen Wissenslücken und Missverständnisse, die sich über soziale Medien rasch verbreiten und festsetzen können.

Spannend ist, dass Frauen zunehmend als aktive Wissensproduzentinnen auftreten. Indem sie ihre Trainingserfahrungen teilen, Daten erfassen und reflektieren, erweitern sie das Verständnis von Training. Dieses verkörperte Wissen stärkt die Selbstwahrnehmung, erfordert jedoch eine kritische Einbettung, um neue Stereotype zu vermeiden. Denn auch gut gemeinte Konzepte können die Idee reproduzieren, weibliche Körper seien primär hormonell bestimmt.

Von der Forschung zur Praxis und weiter in die Lebensmitte

Die Ergebnisse sind nicht nur für den Leistungssport relevant. In den Wechseljahren verändern sich hormonelle Muster dauerhaft, was wiederum Einfluss auf Muskulatur, Regeneration und Stoffwechsel hat. Die Prinzipien bleiben jedoch dieselben: Trainingserfolge hängen nicht allein von Hormonspiegeln ab, sondern von Trainingsintensität, Ernährung, Schlaf, mentaler Stabilität und kontinuierlicher Anpassung. Neuere Übersichtsarbeiten zeigen zudem, dass Frauen unabhängig vom Alter und Hormonstatus in ähnlichem Maße auf Krafttraining reagieren können wie Männer, wenn Intensität und Volumen entsprechend gewählt werden4. Ein flexibler Umgang mit diesen Faktoren ist der Schlüssel, um Leistung, Gesundheit und Wohlbefinden langfristig zu erhalten.

Fazit

Wissen über Frauenkörper ist also kein statisches Faktum, sondern ein sich ständig wandelndes Netzwerk. Je mehr Frauen in Forschung, Training und Öffentlichkeit sichtbar werden, desto differenzierter wird das Bild. Die Herausforderung besteht darin, diese Vielfalt anzuerkennen, ohne sie zu vereinfachen.

 

Quellen:

  1. Colenso-Semple LM, D’Souza AC, Elliott-Sale KJ, Phillips SM. Current evidence shows no influence of women’s menstrual cycle phase on acute strength performance or adaptations to resistance exercise training. Front Sports Act Living. 2023;5:1054542. eng. doi:10.3389/fspor.2023.1054542.
  2. Cowley ES, Olenick AA, McNulty KL, Ross EZ. “Invisible Sportswomen”: The Sex Data Gap in Sport and Exercise Science Research. Women in Sport and Physical Activity Journal. 2021;29(2):146–151. doi:10.1123/wspaj.2021-0028.
  3. Nelson M, Thorpe H, Wheaton B, Clarke GH, Sims S. Mapping un/contested knowledge of sex/gender in high performance sport: applying Actor-Network Theory to women’s Olympic Weightlifting. Qualitative Research in Sport, Exercise and Health. 2025:1–18. doi:10.1080/2159676X.2025.2578839.
  4. Refalo MC, Nuckols G, Galpin AJ, Gallagher IJ, Hamilton DL, Fyfe JJ. Sex differences in absolute and relative changes in muscle size following resistance training in healthy adults: a systematic review with Bayesian meta-analysis. PeerJ. 2025;13:e19042. eng. doi:10.7717/peerj.19042.
  5. Schofield KL, Thorpe H, Sims ST. “This is the next frontier of performance”: power and knowledge in coaches “proactive” approaches to sportswomen’s health. Sports Coaching Review. 2022;11(3):324–345. doi:10.1080/21640629.2022.2060635.