Wechseljahre im Fokus: Gesellschaft, Geschichte und neue Perspektiven

Jan. 4, 2025 | FemSportsHealth, Gesellschaft, Historie, Menopause, Perimenopause

von Dr. Christine Lohr

Von Tabus und Mythen zur Aufklärung: Wie die Geschichte der Wechseljahre unsere Gesellschaft bis heute prägt.

Die Wechseljahre betreffen rund neun Millionen Frauen allein in Deutschland – und damit auch uns alle. Sie sind nicht nur eine Phase körperlicher Veränderungen, sondern ein gesellschaftliches und berufliches Phänomen mit tief verwurzelten Tabus und wirtschaftlichen Folgen. Während viele Frauen ihre Beschwerden aus Angst vor Stigmatisierung verschweigen, verliert die deutsche Wirtschaft jährlich rund 40 Millionen Arbeitstage. Höchste Zeit, die Wechseljahre aus der Tabuzone zu holen – und einen neuen Blick auf diese Lebensphase zu wagen.

Wechseljahre im Fokus: Mehr als nur ein persönliches Thema

Die Wechseljahre – eine Phase, die etwa die Hälfte der Bevölkerung betrifft – sind mehr als nur eine Reihe von körperlichen Veränderungen. Sie sind ein gesellschaftliches, berufliches und historisches Phänomen, das vielschichtig betrachtet werden muss. Während der Fokus oft auf Symptomen und deren Management liegt, möchte ich in diesem Beitrag eine andere Perspektive aufzeigen. Lassen wir uns auf eine Reise durch Geschichte, Gesellschaft und unsere Arbeitswelt ein und gewinnen ein tieferes Verständnis für die Wechseljahre.

Gesellschaftliche Aspekte: Wechseljahre – ein Tabuthema?

Die Wechseljahre sind nicht nur eine persönliche Herausforderung, sondern auch ein Thema mit weitreichenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen. In Deutschland sind etwa neun Millionen Frauen zwischen 40 und 55 Jahren alt und befinden sich vermutlich in den Wechseljahren. Dennoch bleibt dieses Thema vielfach ein Tabu, vorwiegend im beruflichen Kontext.

Eine aktuelle Befragungsstudie der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin MenoSupport1 zeigt erschreckende Zahlen: Die volkswirtschaftlichen Kosten im Zusammenhang mit Wechseljahresbeschwerden belaufen sich auf jährlich 9,4 Milliarden Euro und führen zu einem Verlust von rund 40 Millionen Arbeitstagen. Viele Frauen verschweigen ihre Beschwerden aus Angst vor Stigmatisierung und mangelndem Verständnis. Das Ergebnis: Fast ein Viertel der betroffenen Frauen reduziert ihre Arbeitsstunden, und ein Drittel meldet sich krank oder nimmt unbezahlten Urlaub. 10% der Befragten mit Wechseljahresbeschwerden wollten wegen der Menopause früher in Rente gehen oder hatten das bereits getan. Bei den Befragten über 55 Jahren waren es sogar 19,4%.

Gesellschaftliches Stillschweigen führt nicht nur zu wirtschaftlichen Verlusten, sondern auch zu einer mangelnden Unterstützung der betroffenen Frauen. Es ist an der Zeit, die Wechseljahre als natürlichen Lebensabschnitt zu enttabuisieren und für mehr Aufklärung und Akzeptanz zu sorgen – am Arbeitsplatz und darüber hinaus.

Historische Wurzeln: Wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt

Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie stark Vorurteile und tradierte Sichtweisen die Wahrnehmung der weiblichen Physiologie geprägt haben. Die medizinische und gesellschaftliche Sicht auf die Wechseljahre ist tief in patriarchalen Strukturen verwurzelt. In der Antike wurde die weibliche Physiologie oft als geheimnisvoll und schwer zu begreifen angesehen. Hippokrates, der als Begründer der Medizin gilt, beschrieb die Wechseljahre indirekt als Teil des natürlichen Alterungsprozesses, sah die weibliche Gesundheit jedoch stark in Zusammenhang mit der Gebärmutter2. Ein populäres Konzept dieser Zeit, insbesondere in den Schriften der Hippokratiker und später auch Galen, war der ‚wandernde Uterus‘. Diese Vorstellung besagt, dass der Uterus (griechisch: Hystera) innerhalb des weiblichen Körpers beweglich sei und an verschiedene Stellen ‚wandern‘ könne – ein unerfüllter Wunsch nach Geschlechtsverkehr oder Schwangerschaft wurde als Ursache betrachtet. Diese ‚Ortsverlagerung‘ wurde für eine Vielzahl von körperlichen und psychischen Beschwerden verantwortlich gemacht. Die Behandlung? Duftstoffe wurden in die Nähe der Vulva gebracht, um den Uterus anzuziehen, während übel riechende Substanzen nahe der Nase platziert wurden, mit dem Ziel, die Gebärmutter von der oberen Körperregion fernzuhalten. Weiterhin galt Geschlechtsverkehr als Mittel der Wahl zur ‚Beruhigung‘ des ‚unbefriedigten‘ Organs. Obwohl die Theorie des wandernden Uterus in der modernen Medizin überholt ist, blieb der Begriff ‚Hysterie‘ bis ins 19. und 20. Jahrhundert ein gängiger Ausdruck für Frauen, die als emotional oder psychisch instabil galten.

Wechseljahresbeschwerden wurden damals kaum differenziert betrachtet, sondern oft in einem breiteren Spektrum weiblicher ‚Störungen‘ verortet. Mit dem Eintritt ins Mittelalter wurde die Sichtweise und Wahrnehmung der weiblichen Körperlichkeit nicht besser, im Gegenteil: Symptome wie Stimmungsschwankungen, Schlaflosigkeit oder Hitzewallungen – typische Anzeichen der Wechseljahre – wurden damals nicht als Teil eines natürlichen biologischen Prozesses erkannt, sondern häufig dämonisiert oder als ‚unnatürlich‘ angesehen und galten als Beleg für eine vermeintliche Schwäche oder ‚Defektivität‘ des weiblichen Körpers.

Die Vorstellung, dass Frauen in den Wechseljahren unkontrollierbare oder gar gefährliche Kräfte entwickeln könnten, passte in das Bild einer Gesellschaft, die weibliche Physiologie kaum verstand und mit Angst betrachtete. Diese Sichtweise gipfelte in der Hexenverfolgung: Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert wurden etwa 100.000 Menschen, überwiegend Frauen, der Hexerei beschuldigt, gefoltert und verbrannt3.

Die Hexenverfolgung und die Tabuisierung weiblicher Physiologie stehen exemplarisch für eine Zeit, in der Frauen nicht nur in ihrer Individualität, sondern auch in ihren biologischen Lebensphasen systematisch diskriminiert wurden. Diese historischen Wurzeln erklären, warum die Wechseljahre bis heute in vielen Gesellschaften ein Tabuthema sind – die Reduktion der Frau auf ihre reproduktive Funktion ist ein zentraler Aspekt der Kulturgeschichte.

Moderne Medizin: Fortschritt und Fehlentwicklungen

Erst im 20. Jahrhundert begann die Medizin, sich systematischer mit den hormonellen Veränderungen der Wechseljahre auseinanderzusetzen. Die Entwicklung von Hormonersatztherapien in den 1940er Jahren wurde zunächst als Durchbruch gefeiert. Gleichzeitig pathologisierte man die Wechseljahre als „Mangelzustand“, der repariert werden müsse. Hohe Dosen von Östrogen wurden ohne individuelle Anpassung verabreicht, was später gesundheitliche Risiken wie ein erhöhtes Krebs- und Thromboserisiko offenbarte.

Diese historischen Entwicklungen prägen noch heute den Umgang mit den Wechseljahren. Viele Frauen berichten, dass ihre Beschwerden nicht ernst genommen oder gar fehlinterpretiert werden. Die Wurzeln dieser Herausforderungen liegen tief in unserer medizinischen und gesellschaftlichen Geschichte.

Wechseljahre neu denken: mehr als nur ein „Mangelzustand“

Die Wechseljahre sind keine Krankheit, sondern ein natürlicher Abschnitt im Leben einer Frau. Anstatt sie als Problem zu betrachten, sollten wir die Wechseljahre als Chance sehen – für Veränderung, Wachstum und ein neues Selbstverständnis.

Aufklärung und Unterstützung

Eine geschlechtersensible Medizin und gesellschaftliche Aufklärung sind essenziell, um Vorurteile abzubauen und Frauen die Unterstützung zu bieten, die sie benötigen. Initiativen wie „Wir sind 9 Millionen“ leisten wichtige Arbeit, indem sie das Bewusstsein für die Wechseljahre stärken und die gesundheitspolitische Agenda beeinflussen.

Perspektivwechsel: Frauen in der Lebensmitte stärken

Es ist an der Zeit, Frauen in der Lebensmitte als wichtige Ressource in unserer Gesellschaft zu betrachten – sowohl im Beruf als auch im privaten Umfeld. Indem wir Wissen teilen und die Wechseljahre aus der Tabuzone holen, schaffen wir eine Grundlage für ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben in dieser Phase.

Fazit: Ein neuer Blick auf die Lebensmitte

Die Wechseljahre sind mehr als nur eine private Angelegenheit. Sie betreffen uns alle – als Gesellschaft, im beruflichen Kontext und durch ihre tief in der Geschichte verwurzelten Sichtweisen. Indem wir diese Lebensphase enttabuisieren und Frauen fundierte Informationen sowie gesellschaftliche Unterstützung bieten, schaffen wir einen Raum für neue Perspektiven.

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In der Folge „Wechseljahre im Fokus – Perspektiven, Wissenschaft, Lösungen“ beleuchte ich die Wechseljahre aus verschiedenen Blickwinkeln: von den gesellschaftlichen und beruflichen Herausforderungen über spannende historische Fakten bis zu ersten Lösungsansätzen.

„Gemeinsam schaffen wir Raum für neue Perspektiven und echte Vielfalt – denn Veränderung beginnt dort, wo wir sie sichtbar machen!“

Quellen:

  1. Entwicklung innovativer BGM-Maßnahmen für Frauen in der Menopause. Ergebnisse; 2024 [updated 2024 Sep 26; accessed 2025 Jan 3]. https://​blog.hwr-berlin.de​/​menosupport/​ergebnisse/​.
  2. Kai Brodersen, editor. Hippokrates: Sämtliche Werke. Darmstadt: Wissenschaftliceh Buchgesellschaft; 2022. 3 vol. ISBN: 978-3-534-27394-2.
  3. Quensel S. Hexen, Satan, Inquisition: Die Erfindung des Hexen-Problems / Stephan Quensel. Wiesbaden, Germany: Springer VS; 2017. 1 online resource. ISBN: 9783658151263.