Ernährung in der Lebensmitte (Teil 1): Wenn der Körper andere Antworten gibt

von Dr. Christine Lohr
Physiologische Veränderungen verstehen – und Ernährung evidenzbasiert an neue Anforderungen anpassen.
Veränderungen in der Lebensmitte kündigen sich selten mit klaren Signalen an – und doch nehmen viele Frauen feine, aber tiefgreifende Verschiebungen wahr: Das gewohnte Training zeigt weniger Wirkung, die körperliche Leistungsfähigkeit nimmt ab, Muskeldefinition verändert sich, und das vertraute Hunger- und Sättigungsgefühl wirkt zunehmend diffus.
Diese Veränderungen sind keine Einbildung – sie sind real, physiologisch erklärbar und verdienen, ernst genommen zu werden. Gerade in einer Zeit, in der Informationen rund um Ernährung, Hormone und Gesundheit beinahe unüberschaubar sind, fehlt es oft an Einordnung. Was passiert im Körper – und was bedeutet das konkret für den Alltag? Besonders die Ernährung spielt in dieser Phase eine Schlüsselrolle – nicht als Diät, sondern als gezielte Unterstützung für Stoffwechsel, Muskulatur und hormonelle Balance.
Dieser Beitrag beleuchtet die physiologischen Grundlagen dieser Veränderungen – mit Fokus auf hormonelle, stoffwechselbezogene und strukturelle Anpassungen im weiblichen Körper. Er zeigt auf, warum Ernährung in dieser Lebensphase nicht pauschal restriktiv gedacht werden darf, sondern ein neues Maß an Bewusstheit und Individualisierung erfordert.
Hormonelle Umstellungen und ein Stoffwechsel im Wandel
Der Rückgang von Östrogen und Progesteron in der Perimenopause und Postmenopause betrifft nicht nur den Zyklus – er verändert zentrale metabolische Prozesse, die zuvor weitgehend unbewusst abliefen. Östrogen beeinflusst unter anderem die Insulinsensitivität, die mitochondriale Effizienz und das neuroendokrine Gleichgewicht von Appetit- und Sättigungshormonen wie Leptin und Ghrelin 6.
Auch der Grundumsatz – also der Energieverbrauch in Ruhe – sinkt. Das liegt unter anderem an einem altersbedingten Rückgang der Muskelmasse, einem stoffwechselaktiven Gewebe. Wer „isst wie immer“ und dennoch zunimmt, erlebt keinen Kontrollverlust, sondern die Folgen einer veränderten Körperzusammensetzung5.
Typisch für die Lebensmitte ist auch eine Zunahme des viszeralen Fetts – also der Fettdepots im Bauchraum. Dieses Fettgewebe ist hormonell aktiv und kann entzündliche Prozesse verstärken. Solche chronisch niedriggradigen Entzündungen („low-grade inflammation“) gelten als Risikofaktor für zahlreiche Erkrankungen – von Insulinresistenz bis hin zu hormonellen Dysbalancen9. Auch das Hunger-Sättigungssystem verändert sich. Leptin (Sättigung) und Ghrelin (Hunger) stehen unter dem Einfluss von Östrogen. Viele Frauen berichten, dass das natürliche Hungergefühl schwächer wird oder das Sättigungsgefühl verzögert einsetzt.
Ein oft unterschätzter Faktor ist die Thermoregulation: Östrogen beeinflusst den Hypothalamus, der u. a. die Körpertemperatur steuert. Hitzewallungen oder nächtliches Schwitzen können den Schlaf beeinträchtigen – mit direkten Auswirkungen auf Appetitregulation, Stressverarbeitung und Essverhalten.
Stresshormone wie Cortisol spielen in dieser Phase eine zentrale Rolle. Schlafmangel oder Dauerstress können den Cortisolspiegel erhöhen – und dadurch den Appetit auf Zucker- oder fettreiche Nahrung verstärken. Es entsteht ein Kreislauf, der sich nur mit gezielter Aufmerksamkeit und Fürsorge durchbrechen lässt.
Der Darm als stiller Mitspieler – Mikrobiom und Hormonbalance
Ein zentrales, oft übersehenes Element ist das Darmmikrobiom – also die Gesamtheit der Mikroorganismen im Verdauungstrakt. Besonders relevant in der Lebensmitte ist das sogenannte Östrobolom: jene Darmbakterien, die an der Verwertung und Reaktivierung von Östrogen beteiligt sind. Doch das Östrobolom ist nicht nur an der Reaktivierung von Östrogenen beteiligt, sondern auch an deren systemischer Bioverfügbarkeit.
Ein gut funktionierendes Östrobolom trägt entscheidend dazu bei, dass Östrogene im Körper verfügbar bleiben. Dabei handelt es sich um bestimmte Darmbakterien, die konjugiertes (also in der Leber gebundenes) Östrogen im Darm wieder aktivieren und so zurück in den Blutkreislauf führen können – ein Prozess, der Teil des sogenannten enterohepatischen Kreislaufs ist.
Gerät dieses fein austarierte System aus dem Gleichgewicht – zum Beispiel durch eine reduzierte mikrobielle Vielfalt oder ein Übermaß bestimmter Enzyme (z. B. ß-Glucuronidase) – kann die Östrogenverwertung gestört sein. Das beeinflusst nicht nur den Hormonhaushalt, sondern möglicherweise auch die Zyklusregulation, das Wohlbefinden und die langfristige Gesundheit3,8.
Darüber hinaus kommuniziert der Darm über die sogenannte Darm-Leber-Achse mit anderen Stoffwechselorganen. Die Leber spielt eine zentrale Rolle bei der Entgiftung und Ausscheidung von Hormonen. Wenn diese Prozesse – etwa durch chronische Entzündungen oder ein unausgewogenes Mikrobiom – beeinträchtigt sind, kann es zu einer unerwünschten Rückresorption hormoneller Abbauprodukte kommen. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass hormonelle Ungleichgewichte verstärkt und Stoffwechselprozesse zusätzlich belastet werden.
Mit hormonellen Veränderungen verändert sich auch die Zusammensetzung des Mikrobioms – und umgekehrt beeinflusst ein gestörtes Mikrobiom den Hormonhaushalt, die Verdauung und das Immunsystem. Viele Frauen berichten in dieser Phase erstmals über Verdauungsprobleme, Blähungen oder Symptome, die an ein Reizdarmsyndrom erinnern.
Ein weiterer Faktor ist die sogenannte Darmbarriere: Sie wird durch Stress, Ernährung und hormonelle Veränderungen beeinflusst – und kann bei Störungen zu systemischer Entzündungsaktivität beitragen.
Ernährung kann hier regulierend wirken. Eine ballaststoffreiche, vielfältige Ernährung unterstützt die mikrobielle Diversität und damit die Produktion entzündungshemmender Metabolite. Besonders hilfreich sind fermentierte Lebensmittel wie Kefir, Joghurt, Sauerkraut, Kimchi oder Tempeh. Sie liefern probiotische Kulturen und stärken das Mikrobiom nachhaltig.
Mehr als Kraftfrage – Ernährung für Muskeln und Knochen
Bereits ab dem 35. Lebensjahr beginnt ein langsamer Verlust an Muskelmasse – ein Prozess, der mit den Wechseljahren deutlich an Fahrt aufnimmt. Der medizinische Begriff dafür: Sarkopenie. Wird nicht gezielt gegengesteuert, verliert der Körper pro Lebensjahrzehnt bis zu 8 % Muskelmasse. Die Folge: geringere Kraft, instabilere Haltung, reduzierter Energieumsatz.
Parallel sinkt die Knochendichte. Der Rückgang des Östrogens ist ein zentraler Risikofaktor für Osteoporose. Muskel- und Knochenstoffwechsel sind eng miteinander verbunden – beide reagieren auf gezielte Reize (Krafttraining) und eine adäquate Nährstoffversorgung 1.
Besonders wichtig ist die Proteinzufuhr: Hochwertiges Eiweiß unterstützt nicht nur den Muskelerhalt, sondern auch die Knochengesundheit. Ebenso zentral sind Kalzium und Vitamin D9.
Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewinnt, ist die anabole Schwelle: Sie beschreibt den Reiz, den es braucht, um Muskelaufbau auszulösen. In der Lebensmitte ist diese Schwelle erhöht. Das bedeutet: Leichtes Training reicht oft nicht mehr aus – es braucht gezielte, intensive Impulse.
Studien zeigen, dass insbesondere intensitätsgesteuerte Kraftreize mit progressiver Belastungssteigerung notwendig sind, um die Muskelproteinsynthese effektiv anzuregen2 – ein Punkt, der in klassischen Trainingsplänen für Frauen häufig vernachlässigt wird. Gleichzeitig muss ausreichend Protein zur Verfügung stehen, um die Muskelproteinsynthese zu unterstützen4,7.
Keine Diät – sondern bewusste Fürsorge
In der Lebensmitte geht es nicht um weniger – sondern um gezielter. Es geht nicht um Kontrolle – sondern um Selbstbeobachtung und neue Impulse. Wer versteht, was sich im Körper verändert, kann bewusster handeln – und Ernährung als Form der Fürsorge verstehen.
Einige erste Schritte können sein:
- Regelmäßige Mahlzeiten: Unterstützen den Stoffwechsel und helfen, Energie besser zu verwerten.
- Protein- und ballaststoffreiche Lebensmittel: Fördern Sättigung, Muskulatur und Darmgesundheit.
- Schlaf und Pausen ernst nehmen: Regeneration ist ein Schlüssel für hormonelles Gleichgewicht und Essverhalten.
Ausblick: Was benötigt der Körper jetzt wirklich?
Im nächsten Teil der Reihe geht es um die Makronährstoffe – also um Kohlenhydrate, Fette und Proteine:
- Welche Rolle spielen Proteine jetzt wirklich – und wie viel ist genug?
- Wie lässt sich der veränderte Energiebedarf erkennen – und gezielt im Kontext von Training und Regeneration unterstützen?
- Warum die Qualität der Fette entscheidend ist – insbesondere im Hinblick auf hormonelle Prozesse.
Teil 3 wird sich dann gezielt mit Mikronährstoffen und der Mahlzeitenstruktur befassen – also mit der Frage, wie Ernährung den Körper gezielt unterstützt, Resilienz stärkt und sinnvoll mit Bewegung zusammengedacht werden kann. Auch das Thema Kreatin greifen wir dabei auf.
Quellen:
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- Antonio J, Ellerbroek A, Silver T, Orris S, Scheiner M, Gonzalez A, Peacock CA. A high protein diet (3.4 g/kg/d) combined with a heavy resistance training program improves body composition in healthy trained men and women–a follow-up investigation. J Int Soc Sports Nutr. 2015;12:39. eng. doi:10.1186/s12970-015-0100-0.
- Baker JM, Al-Nakkash L, Herbst-Kralovetz MM. Estrogen-gut microbiome axis: Physiological and clinical implications. Maturitas. 2017;103:45–53. eng. doi:10.1016/j.maturitas.2017.06.025.
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