Das Gehirn ist nicht geschlechtslos (Teil 1) – Warum Alzheimer Frauen häufiger betrifft – und was das mit Hormonen zu tun hat

von Dr. Christine Lohr
Wie hormonelle Veränderungen den Weg für Alzheimer bereiten können – ein Blick auf die biologischen Prozesse hinter einem unterschätzten Risiko
Gedanken reißen ab, Namen entgleiten, Gespräche verschwimmen – als hätte jemand die geistige Klarheit gedimmt. Viele Frauen erleben solche Momente, besonders rund um die Lebensmitte. Oft wird das mit den Wechseljahren erklärt, mit Stress oder schlicht mit dem Älterwerden. Doch was, wenn diese Veränderungen mehr sind als eine hormonelle Begleiterscheinung? Was, wenn sie Hinweise auf einen Prozess geben, der bislang unterschätzt wurde?
Tatsächlich betreffen etwa zwei Drittel aller Alzheimer-Diagnosen weltweit Frauen3. Das ist keine beiläufige Statistik, sondern ein deutlicher Hinweis darauf, dass das weibliche Gehirn andere Voraussetzungen mitbringt – und andere Herausforderungen. Dieser Beitrag beleuchtet, warum das so ist. Und warum wir beginnen müssen, über Gehirngesundheit geschlechtersensibler zu sprechen.
Alzheimer verstehen – ein differenzierter Blick auf Demenz
Demenz ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen, bei denen kognitive Fähigkeiten wie Gedächtnis, Orientierung, Sprache oder Urteilsvermögen über die Zeit hinweg nachlassen. Die häufigste Form ist die Alzheimer-Krankheit, die laut WHO etwa 60–70 Prozent aller Demenzfälle weltweit ausmacht3.
Alzheimer ist eine neurodegenerative Erkrankung – das heißt: Es kommt zu einem schleichenden Untergang von Nervenzellen. Auslöser dieses Prozesses sind unter anderem Eiweißablagerungen im Gehirn. Beta-Amyloid lagert sich außerhalb der Nervenzellen in Form sogenannter Amyloid-β-Plaques ab, während sich im Inneren der Zellen fehlerhaft veränderte Tau-Proteine ansammeln. Diese Ablagerungen stören die neuronale Kommunikation, lösen Entzündungsreaktionen aus und führen schließlich zum Zelltod2.
Besonders betroffen sind Regionen wie der Hippocampus (zuständig für die Gedächtnisbildung) und der präfrontale Kortex (für Entscheidungsfindung, Planung und Urteilsvermögen). Zusätzlich gerät der Energiestoffwechsel des Gehirns aus dem Gleichgewicht: Es verliert zunehmend die Fähigkeit, Glukose als Hauptenergiequelle zu nutzen – lange bevor klinisch erkennbare Symptome auftreten6.
Warum sind Frauen häufiger betroffen?
Dass Alzheimer Frauen öfter trifft, wurde lange mit der höheren Lebenserwartung erklärt. Doch diese Annahme greift zu kurz. Zwar leben Frauen im Durchschnitt etwas länger – in Deutschland derzeit etwa fünf Jahre – doch diese Differenz schrumpft8. Das Erkrankungsrisiko bleibt hoch – selbst wenn sich die Lebenserwartung angleicht. Der Grund dafür liegt tiefer: im weiblichen Stoffwechsel und seiner sensiblen hormonellen Steuerung.
Die Ursachen liegen nicht allein im Alter, sondern im Zusammenspiel biologischer, hormoneller und struktureller Faktoren. Eine Schlüsselrolle spielt das weibliche Sexualhormon Östradiol – eine Form des Östrogens. Es wirkt im Gehirn nicht nur hormonell, sondern reguliert auch den Energiestoffwechsel, schützt vor Entzündungen und unterstützt die Bildung neuer Verbindungen zwischen Nervenzellen6.
Mit dem Rückgang des Östrogenspiegels in der Perimenopause verliert das Gehirn diesen Schutzfaktor – mit messbaren Konsequenzen für Stoffwechsel, Struktur und Funktion.
Die ‚Brain Energy Crisis‘ – was im weiblichen Gehirn passiert
Neurowissenschaftlerin Lisa Mosconi beschreibt die Veränderungen in der Perimenopause als eine Art Energiekrise im Gehirn. Mit dem Rückgang von Östradiol verändert sich der Glukosemetabolismus – das Gehirn kann seine wichtigste Energiequelle nicht mehr wie gewohnt nutzen. Die Mitochondrien arbeiten weniger effizient, Entzündungsprozesse nehmen zu, die Fähigkeit zur Bildung neuer neuronaler Verbindungen wird beeinträchtigt5.
Diese Umstellung betrifft nicht alle Frauen gleichermaßen. Viele kompensieren die Veränderungen gut, andere spüren deutliche Einschränkungen: Konzentrationsprobleme, Wortfindungsstörungen, das Gefühl von „Brain Fog“. Symptome, die oft bagatellisiert werden – und dabei Ausdruck realer biologischer Prozesse sind.
Ein gut trainierter Stoffwechsel, etwa durch Bewegung und Krafttraining, kann die Flexibilität des Gehirns verbessern7,9. Auch Ketonkörper – Energieträger, die aus Fett gewonnen werden – gewinnen in diesem Zusammenhang an Bedeutung4. Das Gehirn kann sie als alternative Energiequelle nutzen. Entscheidend ist nicht nur, was fehlt – sondern ob der Körper bereit ist, Alternativen zu aktivieren.
Sichtbar gemacht: Was moderne Bildgebung zeigt
Was viele Frauen erleben, lässt sich inzwischen auch mit bildgebender Diagnostik belegen. FDG-PET-Scans – also Untersuchungen mit radioaktiv markierter Glukose – zeigen: In der Perimenopause sinkt bei vielen Frauen die Glukoseverwertung im Gehirn deutlich6.
Wie bereits beschrieben, sind vor allem Areale wie der Hippocampus und der präfrontale Kortex betroffen – jene Bereiche, die für Gedächtnis, Sprache und Entscheidungsfindung besonders wichtig sind1. Die Studien von Lisa Mosconi und ihrem Team belegen: Diese Veränderungen setzen oft schon in den Vierzigern ein – lange bevor Symptome bewusst wahrgenommen werden.
Das weibliche Gehirn altert nicht einfach nur „anders“ – es durchläuft einen tiefgreifenden Anpassungsprozess. Und dieser ist nicht primär eine Frage des Alters, sondern eine hormonelle und metabolische Herausforderung.
Diese Erkenntnisse sind wichtig – aber noch nicht das ganze Bild.
Was macht das Risiko für Frauen zusätzlich aus? Welche Rolle spielen Schlaf, Stress, Genetik – und welche Versorgungslücken zeigen sich im Alltag? Genau das beleuchten wir im zweiten Teil dieser Reihe.
Teil 2 erscheint am 1. Mai – mit konkreten Impulsen für Prävention, Lebensstil und mehr Klarheit im Denken.
Quellen:
- Aggarwal NT, Mielke MM. Sex Differences in Alzheimer’s Disease. Neurol Clin. 2023;41(2):343–358. eng. doi:10.1016/j.ncl.2023.01.001.
- Altmann A, Tian L, Henderson VW, Greicius MD. Sex modifies the APOE-related risk of developing Alzheimer disease. Ann Neurol. 2014;75(4):563–573. eng. doi:10.1002/ana.24135.
- Alzheimer’s Disease International. World Alzheimer Report 2023. [place unknown]: [publisher unknown]; 2023 [updated 2023 Sep 21; accessed 2025 Apr 22]. https://www.alzint.org/resource/world-alzheimer-report-2023/.
- Cunnane SC, Trushina E, Morland C, Prigione A, Casadesus G, Andrews ZB, Beal MF, Bergersen LH, Brinton RD, La Monte S de, et al. Brain energy rescue: an emerging therapeutic concept for neurodegenerative disorders of ageing. Nat Rev Drug Discov. 2020;19(9):609–633. eng. doi:10.1038/s41573-020-0072-x.
- Lopez-Lee C, Torres ERS, Carling G, Gan L. Mechanisms of sex differences in Alzheimer’s disease. Neuron. 2024;112(8):1208–1221. eng. doi:10.1016/j.neuron.2024.01.024.
- Mosconi L, Berti V, Quinn C, McHugh P, Petrongolo G, Varsavsky I, Osorio RS, Pupi A, Vallabhajosula S, Isaacson RS, et al. Sex differences in Alzheimer risk: Brain imaging of endocrine vs chronologic aging. Neurology. 2017;89(13):1382–1390. eng. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28855400/. doi:10.1212/WNL.0000000000004425.
- Northey JM, Cherbuin N, Pumpa KL, Smee DJ, Rattray B. Exercise interventions for cognitive function in adults older than 50: a systematic review with meta-analysis. Br J Sports Med. 2018;52(3):154–160. eng. doi:10.1136/bjsports-2016-096587.
- Statistisches Bundesamt. Lebenserwartung steigt wieder leicht an – Ergebnisse der Sterbetafel 2023/2024. [place unknown]; [date unknown] [accessed 2025 Apr 21]. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/_inhalt.html.
- Stillman CM, Uyar F, Huang H, Grove GA, Watt JC, Wollam ME, Erickson KI. Cardiorespiratory fitness is associated with enhanced hippocampal functional connectivity in healthy young adults. Hippocampus. 2018;28(3):239–247. eng. doi:10.1002/hipo.22827.