RED-S: Energie im Ungleichgewicht – wenn Gesundheit, Hormone und Leistung leiden

von Dr. Christine Lohr
Wenn dem Körper dauerhaft Energie fehlt, drosselt er zentrale Funktionen – mit Auswirkungen auf Hormone, Knochen, Stoffwechsel und Gehirn.
Relative Energy Deficiency in Sport (RED-S) – lange Zeit vor allem im Hochleistungssport thematisiert – betrifft inzwischen auch aktive Frauen jenseits des Spitzensports. Dabei geht es um weit mehr als fehlende Kalorien oder zu viel Training. RED-S beschreibt ein komplexes physiologisches Syndrom, das zentrale Körpersysteme beeinträchtigen kann – von der Hormonregulation über den Knochenstoffwechsel bis hin zur kognitiven Leistungsfähigkeit5.
Was ist RED-S?
Der Begriff RED-S wurde 2014 vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) eingeführt und 2018 im Rahmen eines erweiterten Konsenspapiers konkretisiert5. Im Zentrum steht die sogenannte Low Energy Availability (LEA) – ein Zustand, in dem dem Körper dauerhaft zu wenig Energie zur Verfügung steht, um alle grundlegenden Funktionen aufrechtzuerhalten4.
Anders als frühere Konzepte wie die Female Athlete Triad, die sich auf Essstörung, Amenorrhoe und reduzierte Knochendichte fokussierten, betrachtet RED-S ein breites Spektrum betroffener Systeme2:
- Reproduktives System (z. B. Amenorrhoe, Hypogonadismus)
- Endokrines System (z. B. Schilddrüsenhormone, Leptin, Cortisol)
- Kardiovaskuläres System (z. B. orthostatische Intoleranz)
- Skelettsystem (z. B. Osteopenie, Stressfrakturen)
- Immunsystem (z. B. erhöhte Infektanfälligkeit)
- Kognitive Funktionen und Psyche (z. B. Konzentrationsstörungen, depressive Verstimmungen)
Die Ursachen liegen nicht allein in intensiver sportlicher Belastung. Vielmehr entsteht RED-S durch ein anhaltendes Missverhältnis zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch – unabhängig vom Trainingsniveau. Gerade aktive, gesundheitsbewusste Frauen sind gefährdet, insbesondere in hormonell sensiblen Lebensphasen wie der Perimenopause7.
RED-S jenseits des Leistungssports
Zahlreiche aktuelle Studien3,5,7 zeigen, dass RED-S keineswegs auf den Leistungssport beschränkt ist. Besonders Frauen in der Lebensmitte sind gefährdet – nicht selten unbeabsichtigt. Mögliche Auslöser:
- Reduzierte Energiezufuhr trotz erhöhtem Bewegungsumfang
- Intervallfasten oder Low-Carb-Ernährung ohne adäquate Kompensation
- Fastfood-Vermeidung mit energiedefizitären „clean eating“-Mahlzeiten
- Stressbedingter Appetitverlust
- Überbetonung körperlicher Aktivität zur Gewichtskontrolle
Viele Frauen kompensieren hormonell bedingte Veränderungen – etwa Gewichtszunahme oder Stimmungsschwankungen – durch Ernährung und Sport7. Wenn dabei jedoch die Energieverfügbarkeit dauerhaft unter das erforderliche Maß sinkt, können sich schleichend Symptome eines RED-S-Syndroms entwickeln.
Symptome erkennen – Frühzeichen ernst nehmen
RED-S entwickelt sich häufig unbemerkt. Die Symptome sind unspezifisch, werden oft fehlinterpretiert oder als „normaler Trainingsstress“ abgetan. Typische Warnzeichen sind1:
- Zyklusunregelmäßigkeiten oder Amenorrhoe
- Anhaltende Müdigkeit trotz Schlaf
- Leistungsabfall trotz Training
- Stimmungsschwankungen, Konzentrationsprobleme
- Infektanfälligkeit
- Stressfrakturen oder Knochenschmerzen
- Niedriges fT3 bei normalem TSH
- Abfall der Basaltemperatur
Gerade in der Perimenopause – einer Phase hormoneller Instabilität – können RED-S-Symptome mit hormonell bedingten Umstellungen verwechselt werden. Dazu gehören:
- Zyklusstörungen
- Schlafstörungen
- Gewichtszunahme
- Stimmungsschwankungen
Ein RED-S kann diese Symptome verstärken – oder ursächlich sein. Eine differenzierte Betrachtung ist daher entscheidend.
Physiologie: Was passiert im Körper?
Die zentrale Steuerstelle für viele hormonelle Prozesse ist der Hypothalamus – ein Bereich im Gehirn, der den Energiezustand des Körpers kontinuierlich überwacht. Wenn über längere Zeit zu wenig Energie zur Verfügung steht, sendet der Hypothalamus Signale aus, die mehrere hormonelle Regelkreise beeinflussen. Ziel ist es, Energie zu sparen und lebenswichtige Funktionen zu priorisieren. Doch genau das kann langfristig zu weitreichenden gesundheitlichen Folgen führen3,5:
- Fortpflanzungshormone: Die sogenannte Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse steuert den weiblichen Zyklus. Bei Energiemangel schüttet der Hypothalamus weniger GnRH (Gonadotropin-Releasing-Hormon) aus. In der Folge sinken auch die Hormone LH und FSH, die für den Eisprung notwendig sind. Die Folge: Der Eisprung bleibt aus oder die Periode setzt ganz aus (Amenorrhoe).
- Schilddrüsenfunktion: Der Körper senkt die Produktion des aktiven Schilddrüsenhormons fT3, um den Grundumsatz zu reduzieren. Das bedeutet: Der gesamte Stoffwechsel läuft langsamer – man friert schneller, hat weniger Energie und nimmt trotz Bewegung kaum ab.
- Stresshormone: Das Stresshormon Cortisol bleibt bei niedrigem Energieangebot dauerhaft erhöht. Das kann zu Muskelabbau, Schlafstörungen, erhöhter Reizbarkeit und einer geschwächten Immunabwehr führen.
- Hunger- und Sättigungssignale: Das Hormon Leptin, das bei ausreichenden Energiespeichern Sättigung signalisiert, sinkt bei Energiemangel stark ab. Der Körper interpretiert dies als Hungersignal – selbst, wenn keine bewusste Diät erfolgt. Gleichzeitig steigt häufig das appetitanregende Hormon Ghrelin.
- Knochengesundheit: Ein dauerhaftes Energiedefizit wirkt sich negativ auf den Knochenstoffwechsel aus. Das Hormon IGF-1, das den Aufbau von Knochenmasse fördert, wird weniger gebildet. Sinkende Östrogenspiegel – wie sie bei RED-S auftreten – beschleunigen zusätzlich den Knochenabbau. Das Risiko für Stressfrakturen und eine frühe Osteopenie steigt deutlich.
- Gehirn und Nervensystem: Auch das zentrale Nervensystem leidet unter chronischem Energiemangel. Viele Betroffene berichten über Konzentrationsprobleme, Vergesslichkeit oder das Gefühl eines „Nebelkopfs“ (engl. „brain fog“). Schlafprobleme und eine erhöhte Stressanfälligkeit sind weitere typische Symptome. Der sogenannte Sympathikotonus – also die Daueraktivierung des Nervensystems – bleibt erhöht, was langfristig zu Erschöpfung führt.
Energieverfügbarkeit: Der zentrale Parameter
Die sogenannte Energy Availability (EA) ist definiert als6:
(Energieaufnahme – Trainingsverbrauch) / kg fettfreier Körpermasse (FFM)
Ein Wert von < 30 kcal/kg FFM pro Tag gilt als kritisch – insbesondere bei Frauen. Zielbereich: ca. 45 kcal/kg FFM.
Um diesen Wert individuell zu erfassen, empfiehlt sich eine BIA-Messung (Bioimpedanzanalyse) zur Bestimmung der fettfreien Körpermasse.
Standardformeln unterschätzen oft den Bedarf aktiver Frauen mit hohem Muskelanteil.
Maßnahmen zur Regulation
Die gute Nachricht: RED-S ist reversibel. Voraussetzung ist jedoch eine systematische Korrektur der Energieverfügbarkeit und hormonellen Balance. Zentrale Schritte8:
- Energiezufuhr erhöhen – v. a. Kohlenhydrate
Nicht radikal, aber gezielt. Besonders nach Belastung sollten Kohlenhydrate zur Verfügung stehen, um Glykogen zu regenerieren und Cortisolspitzen zu puffern.
- Proteinzufuhr sichern (etwa 1,6–2,2 g/kg KG)
Gleichmäßige Verteilung über den Tag, inkl. post-workout-Einheiten. Hochwertige Quellen (z. B. Eier, Tofu, Tempeh, Hülsenfrüchte, Huhn, Rinderfilet, Lachs) fördern Muskelproteinsynthese und Regeneration.
- Trainingsvolumen ggf. reduzieren
Temporäre Reduktion von Intensität oder Umfang kann notwendig sein. Krafttraining sollte erhalten bleiben, aber mit Fokus auf Qualität statt Quantität.
- Schlaf & Regeneration priorisieren
Schlafdefizit wirkt wie ein hormoneller Stressor. Mindestens 7–8 Stunden, möglichst konsistent. Entspannungszeiten aktiv einplanen.
- Körperwahrnehmung stärken
Zyklus-Tracking, Temperaturmessen, Tagebuch – all das kann helfen, Veränderungen frühzeitig zu erkennen und individuell zu reagieren.
- Interdisziplinär begleiten lassen
Erfahrene Fachkräfte (Sportärzt:innen, Ernährungsberater:innen, Osteopath:innen, Psycholog:innen) unterstützen eine fundierte Diagnose und nachhaltige Regulation – insbesondere bei psychologisch bedingtem Essverhalten oder Perfektionismus.
Fazit – Energie ist mehr als Kalorien
RED-S ist kein Nischenthema für Leistungssportlerinnen, sondern betrifft eine wachsende Zahl aktiver Frauen – besonders in hormonellen Umbruchphasen. Oft bleibt das Syndrom unerkannt, weil Symptome diffus, der Lebensstil scheinbar „gesund“ ist und Energiebedarf unterschätzt wird3.
Ein ausgewogener Energiehaushalt ist Voraussetzung für:
- Hormonelle Stabilität
- Mentale Gesundheit
- Schlaf und Regeneration
- Muskelkraft und Leistungsfähigkeit
- Langfristige Knochengesundheit
Und nicht zuletzt: RED-S betrifft mehr als die körperliche Leistungsfähigkeit. Auch das Gehirn reagiert sensibel auf eine anhaltend unzureichende Energiezufuhr – mit reduzierter Konzentration, mentaler Erschöpfung, Stimmungstiefs oder Schlafstörungen. Diese neurokognitiven Folgen sind eng mit dem Konzept der Energieverfügbarkeit verknüpft und bestätigen:
Ein gesunder Körper braucht Energie – aber ein klarer, leistungsfähiger Geist genauso.
Quellen:
- Ackerman KE, Holtzman B, Cooper KM, Flynn EF, Bruinvels G, Tenforde AS, Popp KL, Simpkin AJ, Parziale AL. Low energy availability surrogates correlate with health and performance consequences of Relative Energy Deficiency in Sport. Br J Sports Med. 2019;53(10):628–633. eng. doi:10.1136/bjsports-2017-098958.
- Gallant TL, Ong LF, Wong L, Sparks M, Wilson E, Puglisi JL, Gerriets VA. Low Energy Availability and Relative Energy Deficiency in Sport: A Systematic Review and Meta-analysis. Sports Med. 2025;55(2):325–339. eng. doi:10.1007/s40279-024-02130-0.
- Heikura IA, Uusitalo ALT, Stellingwerff T, Bergland D, Mero AA, Burke LM. Low Energy Availability Is Difficult to Assess but Outcomes Have Large Impact on Bone Injury Rates in Elite Distance Athletes. Int J Sport Nutr Exerc Metab. 2018;28(4):403–411. eng. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29252050/. doi:10.1123/ijsnem.2017-0313.
- Melin A, Tornberg ÅB, Skouby S, Møller SS, Sundgot-Borgen J, Faber J, Sidelmann JJ, Aziz M, Sjödin A. Energy availability and the female athlete triad in elite endurance athletes. Scand J Med Sci Sports. 2015;25(5):610–622. eng. doi:10.1111/sms.12261.
- Mountjoy M, Sundgot-Borgen JK, Burke LM, Ackerman KE, Blauwet C, Constantini N, Lebrun C, Lundy B, Melin AK, Meyer NL, et al. IOC consensus statement on relative energy deficiency in sport (RED-S): 2018 update. Br J Sports Med. 2018;52(11):687–697. eng. doi:10.1136/bjsports-2018-099193.
- Sims ST, Kerksick CM, Smith-Ryan AE, Janse de Jonge XAK, Hirsch KR, Arent SM, Hewlings SJ, Kleiner SM, Bustillo E, Tartar JL, et al. International society of sports nutrition position stand: nutritional concerns of the female athlete. J Int Soc Sports Nutr. 2023;20(1):2204066. eng. doi:10.1080/15502783.2023.2204066.
- Slater J, Brown R, McLay-Cooke R, Black K. Low Energy Availability in Exercising Women: Historical Perspectives and Future Directions. Sports Med. 2017;47(2):207–220. eng. doi:10.1007/s40279-016-0583-0.
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